Die Tagebücher und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598-1667). Edition und Kommentar

Projekt am Institut für Geschichte der Universität Wien, in Kooperation mit der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, gefördert durch den Fonds zur Förderung der Wissenschaften
Beschreibung der Quelle


Diarien und Tagzettel

Die Überlieferung im Familienarchiv Harrach setzt – nach einer einzelnen Notiz aus dem Jahr 1629 – mit italienischen Niederschriften des Kardinals für das Jahr 1630 ein. Dieser und die folgenden Jahrgänge bis 1637 sind allesamt ausschließlich in Italienisch überliefert und stellen vom Typ her Tagebücher dar. Auch wenn sie nur teilweise in Schreibkalendern überliefert sind, erinnern sie doch stark an die aus zahlreichen Beispielen des 17. Jahrhunderts bekannten Notizen in solchen Kalendern: Sie sind relativ knapp gehalten, enthalten Notate zu Ereignissen, Reisen und Personen sowie Geschäften, im Falle Harrachs vor allem zu Geldgeschäften, Amtsführung und zu zeremoniellen Fragen, aber kaum Erzählansätze. Zwar sind sie konsequent in der Ich-Form gehalten, aber Ich-Aussagen kommen in diesen Jahrgängen noch selten vor. Wie in den meisten Schreibkalendern legt auch Harrach in seinen Texten der dreißiger Jahre keinen Wert auf Dokumentation des Tagesablaufs, so dass insgesamt in erster Linie der Eindruck eines Merkbuchs entsteht.
Die zweite Romreise Harrachs im zweiten Halbjahr 1637 stellt eine Zäsur der Überlieferung dar – ein eigenhändiges Tagebuch dokumentiert nun in großer Ausführlichkeit Gespräche und Besuche Harrachs in Rom. Doch nicht nur durch die Ausweitung der italienischen Niederschriften ist es, die das Jahr 1637 zur Zäsur werden lässt: Die mit der Reise nach Rom einsetzenden deutschsprachigen Mitteilungen zeigen deutlich, wie die Form der deutschen Niederschrift im Kontext dieser Reise aus der Korrespondenz entstand.
Die italienische Überlieferung der Jahre 1638 bis 1640 unterscheidet sich davon weiterhin erheblich, sowohl hinsichtlich ihrer Länge wie hinsichtlich der enthaltenen Informationen. So findet eine Vielzahl von Einzelinformationen Eingang in die italienischen Tagesnotizen, während über den Tagesablauf Harrachs weniger Angaben enthalten sind. Dies unterscheidet die italienischen Niederschriften deutlich von den deutschen Tagzetteln, deren erklärtes Ziel es war, die Familie über Harrach selbst zu informieren. Ungeachtet allmählicher Annäherungen zwischen beiden Textsorten sowie stärkerer formaler Ähnlichkeiten bleiben dauerhaft erhebliche inhaltliche Differenzen beider Überlieferungsstränge zu konstatieren.
Angesichts des Umfangs und der inhaltlichen Vielfalt sind diese schwer auf einige knappe Punkte zusammenzufassen; besonders signifikant ist aber etwa der Unterschied hinsichtlich der Notizen zu den beiden Konklaves 1644 bzw. 1655. Während beide in den italienischen Diarien großen Raum einnehmen, ausführlich Stimmenzahlen und Verhandlungen protokolliert werden, wurden im Konklave keine deutschen Tagzettel verfasst. Gut erkennbar ist auch, dass in den italienischen Texten Geldangelegenheiten immer wieder eine Rolle spielen, die in den Tagzetteln fast nie erscheinen. Die in den italienischen Texten wiederholt aufscheinenden Hinweise auf familiäre Angelegenheiten sind in den deutschen Tagzetteln fast überhaupt nicht zu finden. Sichtlich größeren Stellenwert haben in den Diarien auch Fragen des Zeremoniells; entsprechende Notizen zu den Ereignissen findet man zwar auch in den Tagzetteln, aber nie in dieser Ausführlichkeit. Hier, in den deutschen Tagzetteln, dagegen erscheinen Meldungen zum politischen Tagesgeschehen in erheblichen Ausmaß. Betreffen diese in den vierziger Jahren meist die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges, so sind es in den fünfziger Jahren zahlreiche europäische Kriegsschauplätze, derer Harrach in den Tagzetteln gedenkt. Dagegen sind Bemerkungen zur Amtsausübung Harrachs als Kirchenfürst in den deutschen Tagzetteln wieder eher selten, während sie im italienischen Text regelmäßig auftauchen.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Gesamtkorpus der Edition nicht nur zwei sprachlich voneinander unterschiedene Überlieferungsstränge umfasst. Offensichtlich stehen die Sprachen auch für zwei unterschiedliche Typen von Texten, wobei für beide die Einordnung als Selbstzeugnis zu unterstreichen ist. In italienischer Sprache haben wir ein Tagebuch oder Diarium vor uns, welches Harrach in erster Linie als „Magazin für künftiges Erinnern“ (Wuthenow) führte, während der Dokumentation des Alltags weniger große Bedeutung zukam. Dies ist zugleich der persönlichere Teil der Überlieferung, da die Notizen wohl ausschließlich für den Gebrauch des Verfassers gedacht waren. Dass gerade dieser Teil Italienisch, also nicht in der Muttersprache des Kardinals, geschrieben war, könnte auf den ersten Blick dagegen sprechen – eine umfassendere Betrachtung seines schriftlichen Nachlasses zeigt jedoch, dass es diese Sprache war, die er gewöhnlich für persönliche, nicht-offizielle Niederschriften wählte.
In deutscher Sprache verfasste Harrach dagegen aus dem Brief entwickelte „Tagzettel“ oder „foglietti“. Diese weisen insofern ebenfalls Züge eines Tagebuches auf, als sie chronologisch gegliedert sind und zahlreiche Nachrichten über den Verfasser selbst aufnahmen. Insbesondere die regelmäßigen Angaben zum Tagesablauf stellen die deutschen Texte in die Nähe von Diarien oder Schreibkalendern und damit auch zur italienischen Überlieferung. Viel ausführlicher als dort führte der Kardinal aber in seinen Tagzetteln Nachrichten über sich selbst mit solchen über seine direkte Umgebung (Personen und Ereignisse am Aufenthaltsort bzw. im näheren sozialen Umfeld) und das politische Tagesgeschehen zusammen. Diese Kombination, besonders die Rolle politischer Meldungen, unterscheidet die Tagzettel bereits von der Mehrzahl der zeitgenössischen Tagebücher, obwohl auch dort Nachrichteneinsprengsel vorkamen. Entscheidend für die Auswahl der Informationen durch den Verfasser war eben, dass die Tagzettel nicht in erster Linie zur privaten Lektüre oder Erinnerung geschrieben wurden. Vielmehr versendete Harrach sie in einem beschränkten, wenn auch nicht klar abgegrenzten Leserkreis in Verwandtschaft und Freundschaft als eine Art persönliches Nachrichtenblatt.